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Drei neue Wege zum Glück 01

Geschichte Info
Wie alles zerbrach.
5k Wörter
4.32
33.9k
8
3

Teil 2 der 10 teiligen Serie

Aktualisiert 06/14/2023
Erstellt 03/29/2018
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Kapitel 1: Wie alles zerbrach

Es begab sich zu der Zeit, als meine Freundin Sandra und ich gerade in unsere erste Wohnung eingezogen waren, dass es an unserer Tür klingelte, und ihre Schwester Michaela mit verweinten Augen davor stand. Was sie bedrückte wollte sie mir nicht sagen, doch sie verlangte nach einem vier Augen Gespräch mit Sandra.

Ich bat sie erst einmal herein, und rief schnell nach Sandra, die gerade noch in der Küche beschäftigt war. Da Sandra nicht gleich kam, bot ich Michaela erst mal was zu trinken an, was sie jedoch dankend ablehnte. Alles in allem machte Michaela in ihrem derzeitigen Zustand einen recht merkwürdigen Eindruck auf mich. So hatte ich sie noch nie erlebt. Sie schien aufs äußerste verunsichert und nervös. Die ganze Zeit rieb sie sich unkonzentriert die Finger und sah sich wie ein aufgescheuchtes Kaninchen in der Wohnung um.

Als Sandra aus der Küche gestürmt kam, war ihr die Wut förmlich ins Gesicht gemeißelt. Sie blieb abrupt mit verschränkten Armen an der Tür am anderen Ende des Zimmers stehen, und durchbohrte ihre Schwester mit einem Blick, der nicht nur töten konnte, sondern sein Opfer gleich auch noch zerstückeln und in Säure auflösen wollte.

Sandra:„WAS WILLST DU?" blaffte sie ihre Schwester an, die erschrocken zusammenzuckte.

Michaela:„M..mit dir reden." antwortete sie mit zittriger Stimme.

Sandra:„Mit mir reden? Was zum Teufel sollte ich mit dir noch reden?" sie hatte die Lautstärke gedämpft, aber der Hass vibrierte noch immer in ihren Worten.

Michaela:„Bitte, Sandra, ich flehe dich an! Ich kann nicht mehr, ich brauche Hilfe!" erste Tränen kullerten über ihr Gesicht.

Sandra:„Was soll das jetzt? Willst du dich bei mir entschuldigen für alles, was die letzten 20 Jahre passiert ist? Dafür ist es zu spät! Das könnt ihr nicht mehr gut machen."

Sandras Stimme ebbte immer mehr ab, je mehr sie bemerkte, wie verzweifelt ihre Schwester wirkte. Selbst in ihre Gedanken passte es nicht zusammen, die verzogene Göre, für die sie ihre Schwester hielt, nun in Tränen und anscheinend kurz vor einem Nervenzusammenbruch vor sich zu sehen. Schon allein die Tatsache, dass Michaela um Hilfe bat, bisher hatte Sandra nur erlebt, dass Michaela gar nicht erst in eine Situation kam, in der sie Hilfe benötigen würde. Dafür sorgten schon ihre Eltern mit viel Einsatz.

Michaela:„Bitte ... nein ... ich ..." sie sah mich kurz ängstlich an. „Kann ich mit dir unter vier Augen sprechen?"

Sandra:„Hälst du das für klug? Hier gibt es wenigstens einen Zeugen?" antwortete sie so bedrohlich sie noch konnte.

Michaela:„Ja, bitte, es geht nur so."

Sandra ging wortlos Richtung Flur und bedeutete ihrer Schwester, ihr zu folgen. Danach verschwanden beide im Schlafzimmer und schlossen die Tür hinter sich.

Vielleicht kurz zur Erklärung: als ich Sandra vor drei Jahren kennen gelernt hatte, war sie zwar immer sehr freundlich, liebevoll, aufgeschlossen und auch neugierig, was mich anbelangte, jedoch fand ich nie besonders viel über ihre Familie heraus. Manchmal schien es mir sogar so, als könnte sie erahnen, wann das Gespräch in die Nähe ihrer Familie kommt und sie dann geschickt das Thema so weiter leitete, dass wir uns wieder davon entfernten. So dauerte es auch eine ganze Weile, bis ich überhaupt herausgefunden hatte, aus wie vielen Mitgliedern ihre Familie überhaupt bestand, und dass sie außer Eltern eben auch eine jüngere Schwester namens Michaela hatte. Auch vermied sie es, von mir zu Hause abgeholt zu werden. Wir trafen uns immer nur entweder bei mir, oder einem anderen Treffpunkt.

Wenigstens bekam ich ein paar kleine Brocken zugeworfen: inzwischen konnte ich auch noch die Namen ihrer Eltern herausfinden, Gisela und Frederik (aber er wird von seiner Frau lieber Fred genannt). Während Gisela sich damit begnügte, einem Halbtags- und Springerjob als Bürohilfe nachzugehen, hatte sich Fred immerhin zu einem Entwicklungsleiter eines Mittelständischen Betriebes hocharbeiten können. Beide waren nicht besonders reich, aber immerhin so wohlhabend, dass sie sich ein ehemaliges Jagdhaus kaufen und nach ihren Wünschen renovieren und umgestalten konnten. Allerdings konnte Sandra damit als Kind wohl nicht viel anfangen. Es war einfach viel zu weit weg von jeglicher Infrastruktur, und so fühlte sie sich eher in Gefangenschaft, als in der Freiheit, die ihre Eltern damit erreichen wollten.

Kurz vor Weihnachten musste sie dann wohl in den sauren Apfel beißen: sie lud mich zu ihren Eltern nach Hause ein um wenigstens den zweiten Feiertag mit der Familie zu verbringen. Doch ich merkte schnell, dass sie sich offenbar mit Händen und Füßen dagegen gewehrt haben musste, aber ihre Eltern bestanden darauf, ihren Freund auch endlich zu treffen.

Als ich dort eintraf, konnte ich beim besten Willen nicht erkennen, warum Sandra so eine Heimlichtuerei in Bezug auf ihre Familie an den Tag legte. Das Haus ihrer Eltern lag zwar irgendwo im nirgendwo mitten in einem Wald, machte jedoch einen sehr wohnlichen Eindruck. Der Garten war gepflegt und in der Zufahrt standen zwei Kleinwagen, einer davon jedoch ohne Nummernschild wie ich bemerkte. Später erfuhr ich dann noch von einem Oberklasse-Wagen in der Garage.

Drinnen ging es eigentlich so weiter: ihre Eltern waren mir gegenüber ebenso freundlich, wie ich das von Sandra selbst gewohnt war. Lediglich Michaela schien deutlich reservierter zu sein und außer einer Begrüßung hörte ich nicht viel von ihr. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum Sandra mir ihre Familie so verheimlichte.

Doch so harmonisch das Fest begann, so katastrophal endete es: Es begann, als wir Männer kurz auf das Thema Autos zu sprechen kamen. Wir redeten einfach nur kurz darüber, was für Autos wir hatten, welche Marken wir bevorzugen, und welche eher mieden, welche Eigenschaften und Ausrüstungen wir bei Autos haben wollten, und welche nicht, eben der gewöhnliche Smalltalk unter Männern. Währenddessen konnte ich bei den drei Damen aus dem Augenwinkel feststellen, dass diese die Augen verdrehten und nur Kopfschütteln für uns übrig hatten.

Ich hatte inzwischen herausgefunden, dass in der Garage noch der besagte Oberklasse-Wagen stand, und dass der Kleinwagen mit Nummernschild Sandras Mutter gehörte. War nun aber auch neugierig geworden, was dann mit dem nicht angemeldeten Wagen war. War das ihr Winterfahrzeug? Freimütig sagte Sandras Vater mir dann, dass dieser für Michaela vorgesehen war. Michaela machte zu diesem Zeitpunkt gerade den Führerschein, beziehungsweise hat gerade damit angefangen, und das Auto sollte angemeldet werden, sobald sie fahren dürfte. Ich hörte danach sofort ein klirren aus Sandras Richtung. Sie hatte ihre Gabel so heftig auf den Teller geworfen, dass sie gleich noch ein Stück weiter flog, und dabei die weiße Tischdecke mit Bratensoße besprenkelte. Sofort waren alle Blicke auf sie gerichtet, während sie nur die Blicke ihrer Schwester mit wutentbranntem Gesicht erwiderte.

Sandra:„War ja sooo klar! Mir hättet ihr am liebsten verboten, den Führerschein zu machen. Aber euer Schätzchen darf natürlich schon mit 16 anfangen. Und als ich fertig war musste ich förmlich darum flehen, mir selbst zum 18. Geburtstag ein Auto von meinem Ersparten kaufen zu dürfen. Aber die da bekommts schon von hinten reingeschoben, noch ehe sie eine Fahrstunde hatte!" ihr Gesicht begann, sich langsam rot zu verfärben.

Gisela:„Beruhige dich Sandra, damals konnten wir uns das einfach nicht leisten, die Zeiten haben sich eben zum Besseren gewendet." versuchte sie zu beschwichtigen.

Michaela:„Außerdem habe ich mir das mit meinen Leistungen verdient!"

Sandra:„Ach ja? Leistungen? Was hast du denn schon geleistet, außer dir den Arsch zu Hause und in der Schule breitzudrücken? Aber klar, du hast es ja bis ins Gymnasium geschafft, während ich ja so blöd war, nach der Realschule lieber eine Lehre zu machen und Geld zu verdienen.", mit jedem Wort kam Sandra ein bisschen mehr in fahrt und lief langsam rot an.

Gisela:„Was soll denn Michaela dann machen? Lieber wie du sich nur mit der Realschule zu machen, um dann eine gewöhnliche Lehre anzufangen? Heute kommst du mit so was eben nicht weit."

Sandra:„Jaaaa, langsam rückt ihr damit raus, nicht war? Ich war ja immer scheißegal! Ich hätte nach der Realschule auch weitermachen können, und würde jetzt wahrscheinlich kurz vor meinem Diplom stehen. Aber Mut dazu gemacht habt ihr mir ja auch nicht gerade, nicht war? ‚Lieber ein guter Realschulabschluss als ein schlechtes Abitur.' Der Satz von Papa liegt mir heute noch im Ohr!" ihre Stimme steigerte sich inzwischen zum Schreien.

Frederik:„Ich weiß gar nicht, was du willst, du hast doch alles was du brauchst, ein Job, ein Auto, ein Dach überm' Kopf ..."

Sandra:„Ja, und außer dem Dach habe ich mir das auch alles selbst erarbeitet. Aber Schwesterherzchen, euer Schätzchen, bekommt obendrauf noch ein Auto, die Unterstützung für eine weiterführende Schule und lasst mich raten, ihr Studium auf eure Kosten ist auch schon vorbereitet, oder?"

Frederik:„Ja, aber warum sollte ich das nicht für meine Tochter machen? Wir haben doch genug Geld dafür."

Sandra:„Ja genau, für deine Tochter! Singular, war klar. Dass ihr noch eine zweite Tochter habt interessiert euch nicht!", Sandra vertiefte sich plötzlich in eine seltsame Ruhe. „Wisst ihr was? Ich glaube das ist die Lösung: ihr habt nur eine Tochter. Macht euch um mich keine sorgen, das Dach überm' Kopf werde ich mir auch noch selbst besorgen. Ich ziehe aus und zwar sofort! Ich ziehe zu Steffen, egal wie eng es dort ist. Lebt wohl!"

Sandra warf noch wütend die Serviette auf ihren Teller und eilte zur Haustür, die sie mehr als wütend hinter sich zuwarf, nachdem sie gerade mal ihren Mantel von der Garderobe geschnappt hatte.

Ich war noch immer perplex, von der Szene, die sich vor mir da gerade abgespielt hatte. Erst jetzt konnte ich überhaupt nachvollziehen, was gerade passiert war. Ich blickte noch einmal kurz in die Runde. Gisela war inzwischen in Tränen ausgebrochen, sie ergriff ebenfalls die Flucht vom Esstisch, jedoch in Richtung Schlafzimmer, um sich dort auszuheulen. Frederik entschuldigte sich bei mir und meinte noch, dass er verstehen könnte, wenn ich nun mit Sandra wegfahren würde, er jedoch gerne nochmal mit mir reden würde. Danach folgte er Gisela um sie zu trösten. Michaela sah mich nur verständnislos lächelnd an und meinte:

Michaela:„Was war das denn?"

Steffen:„Sieht aus, als wärst du jetzt endgültig ein Einzelkind.", antwortete ich genervt von dem meiner Meinung nach vollkommen blödsinnigen Kommentar.

Ich griff mir auch schnell meinen Mantel und folgte Sandra, um sie zu mir nach Hause zu bringen. Ich fand sie neben meinem Auto im Schnee sitzen, mit den Armen um die Knie geschlungen und ihrem Mantel sorglos über die Schultern geworfen. Ich eilte zu ihr um ihr aufzuhelfen, und sie mit beruhigenden Worten ins Auto zu setzen. Auf dem Heimweg brach sie dann völlig in sich zusammen. Sie schluchzte und heulte, dass ich schließlich das Radio ausmachte, da davon eh nichts mehr zu hören war. Dann schließlich brach alles aus ihr heraus, was sie mir zuvor so erfolgreich verheimlicht hatte: dass ihre Schwester immer nur das wohlbehütete Nesthäkchen war. Sie bekam alles, was sie verlangte. Puppen, Spielzeug, Klamotten, oder besser gleich Einkaufsgutscheine für die Boutique, mehr als genug Taschengeld und und und. Und während Sandra darum betteln musste, länger als zwölf in der Disco zu bleiben, ermutigten ihre Eltern Michaela sogar noch dazu, länger weg zu bleiben. Es schien wirklich so, als hätten ihre Eltern alles erdenkliche dafür getan, ihre Töchter ungleich zu behandeln.

So hatte ich noch keinen Weihnachtsfeiertag erlebt: statt gemütlichem Beisammensein eine Familientragödie. Statt Harmonie und Glückseligkeit ein riesen Krach und zerbrochenes Glück. Ich wollte einfach nur noch schnell nach Hause, und Sandra zu Bett bringen. Etwas Schlaf würde sie vielleicht wieder etwas beruhigen können. Auf dem Weg vom Parkplatz zu meiner Wohnung krallte sie sich noch immer schluchzend an meinem Oberarm fest, und verteilte ihr längst aufgelöstes Make-Up auf meinem Ärmel. So hatte ich Sandra noch nie erlebt. Sie kam mir sonst immer so vor, als könnte sie nichts aus der Bahn werfen, aber in Sachen Familie hatte sich offenbar so viel Frust aufgestaut, dass dieser sich nun endgültig den Weg frei brach.

Im Treppenhaus war sie noch immer so laut, dass einer der Bewohner den Kopf aus der Tür streckte, und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich konnte ihn schnell beruhigen und Sandra in meine Wohnung dirigieren, wo sie dann endlich wenigstens ein wenig ihrer Fassung zurückerlangte.

Sandra:„Hey, ich ..... hab' dich noch gar n....icht gefragt, ob ich heu.....heute bei dir pennen darf.", lächelte sie mich gequält und von seufzern unterbrochen an.

Steffen:„Schatz, du darfst so lange bei mir schlafen, wie du nur willst.", lächelte ich zurück. „Soll ich auf dem Sofa schlafen?"

Sandra:„Nein, heute Nacht will ich bestimmt nicht alleine sein."

Nach diesem Abend war natürlich alles anders. Auch wenn es sie schmerzte, musste ich am nächsten Morgen doch noch das ein oder andere mit ihr besprechen. Sie hatte zwar zu diesem Zeitpunkt keinerlei Ambitionen, auch nur andeutungsweise über ihre Familie zu reden, doch wenigstens konnte sie noch so weit der Logik folgen, dass wir wenigstens das nötigste regeln konnten. Ich musste einfach wissen, wie es jetzt weitergehen sollte, denn außer dem, was sie gestern an hatte, war für sie keine Kleidung in meiner Wohnung, geschweige denn sonst irgendetwas von ihrem Besitz. Sie hatte in der Eile nicht mal ihre Handtasche mitgenommen.

Als ich am darauffolgenden Weihnachtsmorgen in die kalte Küche kam, saß Michaela offenbar schon länger mit angewinkelten Beinen und darum geschlungenen Armen auf einem Stuhl und starrte aus dem Fenster. Ihren Kopf hatte sie dabei auf die Knie gelegt, und ein gelegentliches Schniefen und Wimmern machte schnell klar, womit ihre Gedanken beschäftigt waren. Sie trug lediglich ihren Slip von gestern, und eins meiner T-Shirts, das viel zu groß von ihren Schultern herabhing, dafür aber einiges bedeckte. Sie zitterte am ganzen Körper.

Als ich das sah, holte ich schnell ihren Mantel, und legte ihn ihr um die Schultern. Danach machte ich schnell etwas Kaffee, damit sie sich ein wenig wärmen könnte. Ich stellte den dampfenden Pott vor sie, in der Hoffnung, dass ihr der Geruch bald in die Nase steigen würde, und sie sich dann erst mal einen Schluck gönnen würde. Doch sie war viel zu weit weg vom Hier und Jetzt. Schließlich durchbrach ich die Stille.

Steffen:„Guten Morgen." Sandra gab keine Antwort „Willst du reden?"

Sie zuckte kurz mit den Achseln und hob dann den Kopf. Sie sah furchtbar aus. Ihre Augen waren knallrot und geschwollen. Die Seite ihres Gesichts, die sie auf die Knie gelegt hatte war nass von unzähligen Tränen und der Abdruck der Kniescheibe hinterließ ebenfalls einen runden roten Fleck auf ihrer Wange. Ihre Nase war ebenso rot und lief offensichtlich ebenso wie ihre Augen. Ihre von der Nacht zerwühlten Haare hingen ihr ins Gesicht und klebten an den feuchten stellen fest. Endlich griff auch eine Hand nach der Kaffeetasse vor ihr und hob sie vor ihr Gesicht.

Steffen:„Ich hoffe, dass ich wenigstens halbwegs verstehen kann, was in dir gerade vorgeht, und dass du dich am liebsten jetzt irgendwo in einem dunklen Loch verkriechen willst oder alternativ dazu irgendwas zerschlagen oder beides. Aber wir sollten uns auch überlegen, wie es zum einen die nächsten Tage weitergeht und wie es nächstes Jahr weitergeht. Über nächstes Jahr können wir noch lange genug sprechen, und natürlich kannst du bis drei König bei mir bleiben, aber bis dahin brauchst du noch was zum Anziehen und vielleicht noch ein paar andere Dinge. Wir sollten vielleicht noch zu dir nach hause fahren und wenigstens das notwendigste packen."

Sandra:„Ich geh' nicht mehr heim! Nie wieder! Ich habe kein zu Hause mehr und auch keine Eltern!" sagte sie in einer so festen Stimme, dass sie alles andere als nach einem trotzigen Kind klang. Die Situation war ernst.

Steffen:„OK, und Klamotten und so? Wir können dir nicht einfach eine neue Garderobe kaufen."

Sandra:„Dann nehm' ich deine."

Auch wenn ich den Worten nicht glauben wollte, so ernst hatte ich bis dahin Sandra selten erlebt. Und ich wusste, dass sie das durchziehen wollte, komme was wolle. Aber wenn ich mir mein T-Shirt an ihr so ansah, konnte ich mir kaum vorstellen, wie sie in meinen Klamotten rumlaufen wollte.

Steffen:„Darf ich dir dann wenigstens vorschlagen, dass ich zu dir fahre und dir was packe?"

Sandra:„Meinetwegen."

Steffen:„OK, dann schreib mir bitte auf, was du brauchst. Heute Mittag fahre ich hin und hols'. Und danach machen wir uns noch einen ruhigen Weihnachtsurlaub und reden irgendwann über nächstes Jahr, OK?" versuchte ich sie aufzumuntern.

Sandra:„OK!"

Viel mehr Konversation war mit ihr an diesem und den nächsten beiden Tagen nicht möglich. Sie schrieb mir die Liste und ich fuhr zu ihren Eltern. Dort angekommen musste ich mich natürlich einem Gespräch stellen, das ich mit dem Wissen, das ich seit vergangener Nacht hatte nur sehr ungern führte. Sandras Eltern waren ebenso aufgewühlt und wollten natürlich wissen, wie es Sandra geht. Ich schilderte ihnen kurz die Situation, und teilte ihnen auch meine Vermutung mit, dass sie wohl längere Zeit keinen Kontakt zu Sandra haben würden, worauf Gisela natürlich in Tränen ausbrach und sich an Frederik klammerte. Ich beendete das Gespräch schnell, weil ich ebenfalls zu irritiert war, und packte mit Gisela zwei große Reisetaschen mit Klamotten, Schuhen, Make-Up, ein paar Utensilien, natürlich die Handtasche, eben alles was man für einen Urlaub braucht. Allerdings war auch noch was auf der Liste, was ihre Eltern schwerer traf: ihre Unterlagen über Versicherungen, Banken, ihren Kfz-Brief und ihre Zeugnisse. So etwas nimmt man nur mit, wenn man wirklich weg will. Da wurde den beiden erst wirklich klar, wie ernst die Lage war. Mich hatte die Erkenntnis schon vorher getroffen, als ich mit Sandra die Liste noch bei mir in der Wohnung durchging.

Bevor ich ging nahm mich Frederik nochmal bei Seite, und fragte mich, ob ich wenigstens ab und zu mit ihm Kontakt halten könnte, damit sie erfahren konnten, wie es ihrer Tochter ging. Zwar hatte ich nach den Erzählungen von Sandra auch einen gewissen Groll auf ihre Eltern, aber zum einen wollte ich die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich die Lage irgendwann beruhigt, und zum anderen muss man immer auch daran denken, dass jede Geschichte zwei Seiten hat. Vielleicht würde ich irgendwann auch diese Geschichte hören. Also tauschte ich mit Frederik die Telefonnummern und richtete für uns beide gleich einen Chat ein. Ich vereinbarte mit ihm aber auch, dass der Kontakt nur zwischen uns beiden stattfinden dürfte und vorläufig keine unserer Frauen Zugang erhält. Männer kommen einfach besser miteinander klar.

Bevor ich ging, drückte mir Gisela noch einen großen Plüschhund, der etwa wie ein Schäferhund aussah, in die Hände. Der stand aber nicht auf der Liste.

Gisela:„Bitte richte ihr wenigstens aus, dass ich ihn dir mitgegeben habe." und brach wieder in Tränen aus.

Bei mir angekommen musste ich zweimal laufen, ehe alles in meiner Wohnung war. Beim zweiten mal brachte ich den Plüschhund mit und konnte schon sehen, dass Sandra ihre Sachen in meiner Wohnung verräumte. Offenbar hatte sie schon einen Plan, was nächstes Jahr passieren würde. Als sie mich jedoch mit dem Hund in der Hand sah, fielen ihr die Kosmetiksachen, die sie gerade ins Bad räumen wollte aus der Hand. Eine Gedenksekunde später stürmte sie mir entgegen, riss sich das Kuscheltier an die Brust und brach auf der Stelle heulend zusammen. So hatte ich sie auch noch nie erlebt. Ein paar Minuten war sie gar nicht mehr ansprechbar. Sie saß mitten im Flur auf dem kalten Boden, den Plüschhund an sich gedrückt und heulte wie der Sprichwörtliche Schlosshund. Mir steckte ein Klos im Hals und ich konnte nichts weiter tun, als beide in den Arm zu nehmen. Irgendwann schaffte ich es, beide aufs Sofa zu bugsieren. Sandra presste den Hund die ganze Zeit mit beiden Armen an sich.

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