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Rameaus Geburtshaus

Geschichte Info
Urlaub in Frankreich.
27.1k Wörter
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Zur Übersicht für die geneigte Leserin und den geneigten Leser -- es gibt ja deren einige, denen meine Geschichten gefallen -- hier eine chronologische Übersicht meiner bisherigen Geschichten:

[Der Unterschied]

[Die Grundbegriffe]

Das Obligatorische

[Über einen starken Typ]

[Ferienspaß I]

PennälerInnenfeten

Lernen fürs Abitur

[Ferienspaß II]

Erstes Eheleben

Auf Schlingerkurs in den Hafen (mit Ferienspaß III)

Der weltberühmte Pianist hat heute nicht seinen besten Tag

Auf der Durchreise

Der Wanderclub

Die Ernennung

[Hinter unverschlossenen Türen]

Vetternwirtschaft

Vom anderen Ufer

An der Ostsee hellem Strande ...

Wenn der Herr außer Haus ist, tanzt das Mäuslein im Bette

Rameaus Geburtshaus

Die mit [] markierten Texte sind nicht in Literotica zu finden, denn sie handeln von Jugenderlebnissen, bei denen einige der handelnden Personen noch keine achtzehn Jahre alt sind, oder sie sind kürzer als 750 Wörter. Wer auch diese Texte lesen möchte, melde ich bei mir, möglichst per E-Mail.

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Mit Dieter hatten wir geplant, in den Sommerferien dieses Jahres Urlaub in Südfrankreich zu machen. Ich wollte mir einige Städte und Dörfer ansehen, Arles, Orange/Aurenga, Beaucaire/ Belcaire, den Schauplatz der entzückenden altfranzösischen Novelle von Aucassin et Nicolette, und das genau auf dem gegenüberliegenden Rhône-Ufer liegende Tarascon, wo sich die Heldentaten von Tartarin de Tarascon abgespielt haben, Vaqueiras, den Geburtsort des Troubadours Raimon de Vaqueiras, ... Nach ausgiebigem Kulturgenuß wollten wir weiter ins Rhône-Delta fahren und einsame Plätzchen ganz draußen an der Dünenküste suchen, wo wir uns ungestört hüllenlos sonnen konnten, im Mittelmeer baden und vielleicht noch mehr.

Als aber die Ferien gekommen waren, hatte Dieter geschäftlich so viel zu tun, daß es quasi -- wenn auch unausgesprochen -- einer Urlaubssperre gleichkam. Vielleicht würden wir gegen Ende der Ferien noch eine oder gar zwei Wochen gemeinsam Urlaub machen können, aber für eine so weite Reise wie nach Südfrankreich würde es sich nicht mehr lohnen. Immerhin konnten wir eine ganze Reihe von Tagesausflügen machen und uns -- warum in die Ferne schweifen -- Städte in Hamburgs Umgebung ansehen: Lübeck, Lüneburg, Stade, auch das jetzt nach der Wende wieder zugängliche Schwerin. Natürlich mußten wir feststellen, daß wir diese Perlen immer noch viel zu wenig kannten.

Unser eheliches Leben verlief in ruhigen, routinierten Bahnen. Nichts gegen eine schöne Routine, aber nach einer oder zwei oder drei Wochen fehlte mir doch das Prickeln meiner sonntäglichen Ausschweifungen mit Otto, denn dieser war, wie man sich denken kann, mit seiner Eheliebsten verreist, zwei trauernde illegitime "Witwen" zurücklassend.

Dieter war es, der mir schon bald nach Anfang der Ferien vorschlug, unter den gegebenen Umständen -- meinte er immer noch nur die "Urlaubssperre"? -- eventuell allein eine Reise zu unternehmen. Dazu hatte ich anfangs wenig Lust, ich war in den ersten Wochen nach dem Schulstreß zum Ende des Schuljahres einfach zu faul für so etwas, aber als die dritte Ferienwoche ins Land kam, fiel mir etwas ein, was ich schon seit langem mal machen wollte: einen Besuch der Stadt Dijon, der Geburtststadt Rameaus, dem die Musikwelt die Theorie der Tonarten des Quintenzirkels zu verdanken hat. Als Komponist steht er wohl eine oder zwei Stufen unter dem etwas älteren François Couperin, aber schon seit mehreren Jahren hing ein Porträt von ihm über meinem Klavier, nicht der meist abgebildete dröge Kupferstich, sondern ein Gemälde, das ich von einem Platten-Cover abphotographiert und dann gerahmt hatte. Es zeigt in eigenartiger diagonaler Bildanordnung den alten Rameau in einem roten Gewand sitzend mit einer Geige in der Hand.

Dieter war sofort mit meiner Idee einverstanden, gab mir, wie zu erwarten, grünes Licht, eine solche Städtereise zu organisieren, und so begab ich mich am nächsten Tag in unser Reisebüro. Unter den normalen Städtereiseangeboten von Hamburg aus war Dijon nicht zu finden, aber die Dame im Reisebüro fand schnell heraus, daß es zwei- oder dreimal pro Woche einen Kurswagen Hamburg--Marseille gab, der nicht über Paris fuhr, sondern sich im östlichen Frankreich hielt, in Dijon den Saône-Rhône-Grabenbruch erreichte und in diesem weiter mit nur wenigen Halten nach Marseille donnerte. Ich wollte nicht allein mit dem Auto fahren. In wenigen Minuten war eine Fahrkarte ausgestellt und ein Zimmer in einem günstigen Hotel in Dijons Stadtkern reserviert -- und in drei Tagen konnte es losgehen. Ich rief Dieter gleich im Bureau an, und als er abends nach Hause kam, hatte der Gute mir einen Reiseführer für Burgund gekauft. Am nächsten Tag kaufte ich mir noch ein paar neue Sachen, unter anderem ein Reisekostüm, am übernächsten Tag versuchte ich, die ausgewählten Kleidungsstücke in ein kleines, handliches Köfferchen zu kriegen, was mir nach einigen Kompromissen bezüglich der Auswahl nach mehreren Stunden auch gelang, und am Reisetag brachte mich Dieter trotz Arbeitsüberlastung zum Dammtorbahnhof an den Zug.

Man sollte öfter mal wieder mit der Eisenbahn fahren, in Ruhe ein gutes Buch lesen oder aber sich an der Landschaft erfreuen, im Moment die Ausläufer der Harburger Berge, des Hamburger Skigebietes, und der Lüneburger Heide und etwas später die faszinierenden feuchten Wiesen der Wümmeniederung -- wenn man sich vorstellt, wie hier nach der Eiszeit die Wassermassen geflossen sind; welches Urstromtal war das eigentlich hier, das hatten wir doch in der Schule lernen müssen, ich erinnerte mich wieder an die ersten Erdkundestunden auf dem Gymnasium, das Elb-Urstromtal war es wohl nicht mehr und das -- wie hieß es nur? -- richtig: Das Weser-Aller-Urstromtal war es wohl noch nicht, was also dann? Bis wir nach einer eleganter Kurve in den Bremer Hauptbahnhof am Rande der Altstadt einliefen und nun sicher im Weser-Aller-Urstromtal angelangt waren, hatte ich das Problem nicht gelöst.

Bis Bremen saß in meinem Abteil mir gegenüber am Fenster eine sehr korrekt gekleidete Dame, etwas älter als ich, die auf meinen Gruß beim Betreten des Abteils etwas Unverständliches gemurmelt hatte und seitdem ohne Unterbrechung in der Frankfurter Allgemeinen las. Auf ihrer Seite am Gang saß ein Herr in den Fünfzigern, Typ Geschäftsmann, der immerhin ein halbwegs freundliches "Guten Morgen!" gesagt und illegal die drei noch freien Plätze mit seinen Schriftstücken belegt hatte, die er fortwährend umsortierte.

In Bremen stieg ein freundlicher Herr zu, ebenfalls etwas älter als ich, ebenfalls Typ Geschäftsmann, der gleich ein freundliches " Bonjour -- Guten Tag!" sagte und rhetorisch fragte:

"Hier ist doch Platz dreiunddreißig?"

Das war der Platz neben mir. Der Herr verstaute seine Reisetasche in der Ablage, der Herr mit den Papierhaufen machte den Platz frei, und der "Neue" setzte sich neben mich. Er war offenbar auf Kommunikation aus. Nach einigen Schweigeminuten stellte er sich als "Gaston Durand" vor und fragte in die Runde:

"Wo fahren Sie denn hin?"

Die betont korrekt gekleidete Dame murmelte etwas, worin ein x vorkam; wahrscheinlich meinte sie Luxemburg. Der ältere Geschäftsmann sagte deutlich und freundlich: "Köln" und ich "Dijon".

Damit war es um die Ruhe im Abteil geschehen. Herr Durand strahlte über das ganze Gesicht und sagte:

"Das ist ja wunderbar! Ich fahre nämlich auch nach Dijon; ich wohne da. Und weswegen fahren Sie in unsere schöne Stadt?"

"Rameau -- Jean-Philippi Rameau, der ist doch in Dijon geboren --?"

"Ja, natürlich -- lieben Sie Musik?"

"Sehr sogar -- besonders die alte."

"Das kann ich mir denken, wenn jemand dem alten Rameau nachfährt."

"Mein Mann kann dieses Jahr keinen Urlaub nehmen, und da hab ich beschlossen, mir mal eine Woche Dijon anzusehen."

"Ein sehr guter Entschluß -- Sie werden es bestimmt nicht bereuen."

"Das hoffe ich -- ich fahre gern in die nicht allzu großen Städte -- Paris, da versteht man doch gar nichts vom Stadtorganismus, da muß man jahrelang leben, um überhaupt ein Gefühl für die Stadt zu bekommen, nicht nur Museen ansehen."

"Da haben Sie wohl recht -- natürlich sollte man einmal im Leben Paris gesehen haben", meinte er als französischer Patriot wohl sagen zu müssen, aber er fuhr gleich fort: "Aber natürlich ist Dijon und überhaupt die Bourgogne viel schöner als Paris."

Die ganze lebhafte Unterhaltung -- die Dame am Fenster sah in immer kürzeren Zeitabständen indigniert von ihrer FAZ auf -- lief fast ohne ein einziges französisches Wort; Herr Durand sprach Deutsch fließend mit sympathischem leichtem französischem Akzent und fast ohne einen Fehler. Ich fragte ihn:

"Herr Durand, woher können Sie denn so prima deutsch?"

"Ach so, ja, das hatte ich ja noch nicht gesagt: Ich bin Lehrer --"

"Wie bitte: Was sind Sie?"

"Lehrer --"

"-- und ich hatte gedacht, Sie seien Geschäftsmann --"

"Da haben Sie sich geirrt, liebe Dame [sic!], ich bin wirklich Lehrer für Deutsch und Englisch in Dijon. Wir arbeiten im Lehrer- und Schüleraustausch mit einer Bremer Schule zusammen; von da komme ich gerade. Aber warum haben Sie gedacht, ich sei Geschäftsmann?"

"So im Anzug -- jetzt im Sommer -- bei der Hitze --"

"Ja, so bin ich, ich zieh mich gern korrekt an, besonders in der Schule. Bei den heutigen Jugendlichen, wenn man da in Jeans und Jesuslatschen zum Unterricht kommt, nennen die einen doch gleich ,Opa`, beim Vornamen und duzen einen. Das gefällt mir nicht so, ich halte da lieber erst einmal auf Distanz. Das schließt ja nicht aus, daß man mit manchen Schülern in ernsthafte und persönliche Gespräche kommt."

"Ja, ich kenne auch solche --"; das Wort "Typen" konnte ich mir gerade noch verkneifen, und so sagte ich: "Kollegen --"

"-- Kollegen: Sind Sie denn auch im Schuldienst?"

"Ja, das bin ich!"

"Sehen Sie", lachte Herr Durand, "das hätte ich nun wieder nicht gedacht."

"Was haben Sie denn gedacht?"

"Ich habe gedacht, wohl wegen Rameau, Sie seien Musikerin oder Künstlerin."

"Nein, das bin ich nun leider nicht, ich kann nur etwas klavierspielen."

"Das ist doch schon eine ganze Menge. Ich hatte auch mal Klavierunterricht, meine Frau als Mädchen auch, dann haben wir unsere beiden Kinder Klavier lernen lassen, mit zweifelhaftem Erfolg, und seit die aus dem Haus sind, steht das Klavier bei uns nur noch da."

"Ein Soda-Klavier."

"??? -- Soda?"

"Ein Klavier, das einfach nur noch ,so da` steht", sagte ich, und wir mußten beide über diesen uralten Witz herzlich lachen. Ich löcherte Herrn Durand weiter:

"Sie haben schon zwei erwachsene Kinder?"

"Ja, ich bin doch schon siebenundvierzig, die Tochter ist einundzwanzig, der Sohn dreiundzwanzig, sie will wie meine Frau Ärztin werden, er studiert Sprachen, beide in Clermont-Ferrand, um von den Eltern wegzusein, mein Sohn will Diplomat werden."

"Das paßt ja auch mit Französisch als Muttersprache."

"So ist es wohl. -- Und Sie, haben Sie auch Kinder."

"Nein."

"Das kann aber doch noch werden, Sie sind doch noch jung --" Als aber Herr Durand meinen Gesichtsausdruck sah, der sich wohl etwas verfinstert hatte, sagte er ganz leise: "Entschuldigen Sie bitte, daß ich damit angefangen habe."

"Ist schon gut, Herr Durand", flüsterte ich zurück.

In unserem Gespräch trat nun eine Pause ein, während derer uns die Dame am Fenster einen Blick zuwarf, der sehr beredt "na endlich!" bedeutete. Aber schon sehr bald darauf fragte mich Herr Durand:

"Welche Fächer haben Sie denn, Frau --?"

"Knaack, Kerstin Knaack."

"-- Frau Knaack?"

"Deutsch, Latein und Griechisch."

"Alle Achtung, Frau Kollegin -- während des Studiums habe ich auch mehrere Semester Griechisch studiert, einfach weil mich das interessiert hat. Wir sind aber über etwas Xenophon und Homer nicht hinausgekommen."

"Ich greife Ihre Worte auf: Das ist doch schon etwas!"

Und über viele Kilometer konnten wir uns über der Lehrer Lieblingsthemata unterhalten: die knappe Besoldung, die Jugend von heute, die blödsinnigen Lehrpläne und und und ... Währenddessen wechselten die Mitreisenden in unserem Abteil, irgendwann merkten wir, daß die maulfaule Dame vom Fensterplatz unter Zurücklassung ihrer FAZ verschwunden war, die schnappten wir für uns, kamen aber nicht zum Lesen, weil wir uns über Gott und die Welt unterhielten. Irgendwann kam das Gespräch zu seinem Ausgangspunkt zurück, und Herr Durand fragte:

"Wie lange wollten Sie denn in Dijon bleiben, Frau -- nennen Sie mich doch ,Gaston`, und darf ich ,Frau Kerstin` zu Ihnen sagen?"

"Nein, das dürfen Sie nicht, Herr Gaston -- ich habe das Hotel für acht Tage gebucht."

"Warum denn nicht, Frau Knaack?", fragte Gaston mit betretener Miene, "und welches Hotel haben Sie gebucht, wenn ich fragen darf?"

"Im Post-Hotel. Und Sie dürfen mich gern beim Vornamen nennen, dann aber bitte nicht ,Kerstin`, sondern ,Melanie`, denn so nennen mich alle guten Freunde und Freundinnen und Bekannten, seit wir auf dem Gymnasium das Wort ,mélas` schwarz gelernt haben."

"Das Post-Hotel ist sehr gut, ordentlich, sehr preiswert und zentral gelegen -- und danke, Frau Melanie."

"Das ,Herr` und ,Frau` könnten wir eigentlich auch gleich weglassen, finden Sie nicht, Gaston?"

"Na klar, Melanie! -- Darf ich Ihnen dann in den nächsten Tagen Dijon zeigen?"

"Aber haben Sie nichts anderes Wichtigeres zu tun -- ach so, nein, bei Ihnen sind ja jetzt auch Ferien."

"Ich will Sie auch nicht den ganzen Tag mit meiner Anwesenheit belästigen; ich schlage vor, ich zeige Ihnen morgen die wichtigsten Sachen, und an den anderen Tagen können Sie dann allein losziehen und sich ansehen, was Sie am meisten interessiert."

"Das ist ein guter Plan, Gaston!"

Es war etwa eineinhalb Stunden vor der Ankunft in Dijon, und es saß jetzt noch ein sympathisches älteres Ehepaar im Abteil, dem wir unsere Sachen anvertrauen konnten, als Gaston mich zu einem Glas Wein in den Speisewagen einlud.

"Ich würd auch gern was essen -- ich bezahl natürlich -- ich hab zwar Bröter mit --"

"Bröter? Heißt das nicht ,Brote`?"

"So heißt es, aber in meiner Familie haben wir immer ,Bröter` gesagt, wohl auch, weil mein Vater ein großer Dänenfreund war -- das hat er an mich vererbt -- und es auf Dänisch ,bröd` heißt. -- Also: Ich hab zwar -- na gut, unter uns Deutschlehrern: Brote mit, bin aber gar nicht zum Essen gekommen."

"Sie essen natürlich mit uns zu Abend, ich lade Sie natürlich ein."

"Das kann ich doch nicht annehmen."

"Doch, das können Sie; wir würden uns sehr freuen -- bitte!"

"Na, wir werden dann ja sehen, gehen wir erstmal einen Wein trinken."

Als wir im Speisewagen saßen, brachte der Kellner schnell den bestellten Wein, wir stießen auf den schönen Tag an, aber ich merkte, wie Gaston herumdruckste, und nach einiger Zeit half ich ihm aus seiner Verlegenheit:

"Herr Durand, Herr Kollege, Gaston, wollen wir nicht, wie unter Lehrern unseres Alters üblich, ,Du` zueinander sagen?"

"Ja, Melanie, das wollte ich gerade sagen, aber ich wußte nicht, wie man das bei euch so tut -- außerdem müßten nach den Etiketten ja Sie -- Du --"

"Ist schon gut, Gaston, und du weißt es ja schon: Ich bin die Melanie."

"Ich heiße Gaston und bin Gaston und habe nie einen anderen Namen gehabt."

Wir stießen noch einmal auf das Du an, und ich mußte doch sagen:

"Gaston, ich mùß jetzt etwas essen, wir fahren ja noch fast eine Stunde --"

"Was möchtest du denn gern essen, Melanie?"

"Was ganz einfaches, ein Käsebrot zum Beispiel."

Gaston winkte den Kellner herbei, und ich bestellte: "Bitte ein Käsebrot, Brie oder Camembert, wenn es geht!" Gaston übersetzte dies dem Kellner, fügte noch hinzu: "Für mich bitte dasselbe!", und fragte mich dann:

"Magst du Brie und Camembert besonders gerne?"

"Ich könnte süchtig danach werden."

"Gut zu wissen", kommentierte Gaston dies nur.

So schnell es mit dem Wein gegangen war, so lange mußten wir auf unsere Käsebrote warten, und als der Kellner endlich kam, drängte etwas die Zeit bis zur Ankunft in Dijon. Aber heißhungrig, wie wir beide nach diesem Tag waren, schafften wir unsere üppigen Portionen mit Leichtigkeit. Als ich gerade den letzten Bissen in den Mund steckte, bremste der Zug gerade, und ich sprang wie von der Tarantel gestochen auf, denn dieser rasende Schnellzug hatte nach Fahrplan nur drei Minuten Aufenthalt in Dijon und war zudem um einige Minuten verspätet. Aber Gaston beruhigte mich:

"Hier bremsen die Züge immer, ich weiß nicht warum, wir haben noch fast eine Viertelstunde."

"Wahrscheinlich bricht hier gerade eine Brücke zusammen."

"Das wirds sein."

"Verzeih, aber das ist unser norddeutscher Humor."

"Weiß ich doch auch: Hast du es vergessen? Ich unterrichte ja auch in Bremen. Ich kenne diese Art Sprüche."

Wir gingen in aller Ruhe zu unserem Abteil zurück, Gaston zog sein Jackett an, ich das Jäckchen meines Reisekostüms -- ich weiß gar nicht mehr, wann und wo wir uns bei unserer angeregten Unterhaltung dieser Kleidungsstücke entledigt hatten --, Gaston hob unser Reisegepäck von der Ablage, wir verabschiedeten uns von den netten alten Leuten und begaben uns zum Ausgang.

Als der Zug angehalten hatte, kletterten wir hinaus, und Gaston äugte nach links, nach rechts und wieder nach links, dann sagte er: "Hier!" und lief im Sturmschritt in selbige Richtung. Aber nach nur einer Wagenlänge lag er in den Armen einer -- wohl seiner -- Frau. Als ich japsend dort angekommen war, löste sich Gaston aus der Umarmung, und bevor er ein Wort hätte sagen können, sagte diese Frau auf französisch:

"Du hast noch jemand mitgebracht?"

"Ja, das ist Frau Knaack, Kerstin, Melanie -- das ist kompliziert mit ihren Namen --, sie kommt aus Hamburg und will sich eine Woche Dijon ansehen. Sie war schon im Zug, als ich in Bremen einstieg, und wir haben uns glänzend unterhalten. Ich hab sie zum Abendessen bei uns eingeladen."

"Sehr gut! Seien Sie willkommen, Frau -- Naack!"

"Nennt euch doch auch beim Vornamen und duzt euch -- Melanie ist übrigens eine Kollegin."

"Studienrätin in Hamburg", sagte ich.

"Ich heiße Auguste", sagte dieselbe und reichte mir die Hand.

"Ich schlage vor", ließ sich Gaston vernehmen, "wir setzen Melanie beim Hotel ab -- sie wohnt in der ,Post`, wir fahren nach Hause, stellen das Abendessen hin, und wenn Melanie sich fertiggemacht hat, kommt sie mit dem Taxi -- Rue Racine Nummer dreiundzwanzig", fügte er zu mir gewandt fort.

"Du kannst doch Melanie in der fremden Stadt nicht allein gehen oder mit dem Taxi fahren lassen", sagte Auguste zu Gaston in tadelndem Ton, "nein: Du gehst mit ins Hotel, hilfst Melanie, wenn es was zu helfen gibt, zum Beispiel beim Übersetzen, ich fahr nach Hause, und ihr kommt beide mit dem Taxi nach."

So wurde es gemacht. Auguste hatte für ihr Auto einen Parkplatz nahe am Ausgang des Bahnhofs gefunden, und kaum waren wir eingestiegen und losgefahren, standen wir schon vor dem Post-Hotel. Während ich schon aus dem Auto kletterte, hörte ich noch, wie Gaston Auguste etwas zuflüsterte.

Gaston trug mir den Koffer zur Rezeption, man kannte ihn offenbar und grüßte mich und ihn in ausgemachter Höflichkeit, die Reservierung hatte geklappt, und man wartete schon auf mich, ich füllte das Anmeldeformular aus, erhielt den Schlüssel zu meinem Zimmer im dritten Stock, Gaston setzte sich zum Warten auf einen der Fauteuils, und ich verschwand mit dem Garçon, der meinen Koffer trug, zum Lift. Im Zimmer angekommen gab ich dem Garçon ein Zweimarkstück als Trinkgeld -- französisches Geld hatte ich noch nicht, wofür ich versuchte mich zu entschuldigen -- aber der Garçon strahlte und bedankte sich überschwenglich.

Das Hotel hatte wohl schon ein gesegnetes Alter, wofür ja auch der Name spricht: Das Zimmer war für heutigen Hotelstandard riesig, hatte einen Schreibtisch und noch einen kleinen Tisch, insgesamt vier Stühle, zwei Sessel, zwei Kleiderschränke voller Bügel -- zwar alt und von vielleicht gar nicht mehr existierenden Modehäusern, aber sicher über dreißig -- und ein französisches Bett großen Ausmaßes, obwohl ich ein Einzelzimmer bestellt hatte.

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