Swipe, um zu sehen, wer jetzt online ist!

Vier Jahre Schweigen

Geschichte Info
Auch vertane Jahre haben ein Ende.
8.8k Wörter
4.42
11k
1
Teile diese Geschichte

Schriftgröße

Standardschriftgröße

Schriftabstand

Standard-Schriftabstand

Schriftart Gesicht

Standardschriftfläche

Thema lesen

Standardthema (Weiß)
Du brauchst Login oder Anmelden um Ihre Anpassung in Ihrem Literotica-Profil zu speichern.
ÖFFENTLICHE BETA

Hinweis: Sie können die Schriftgröße und das Schriftbild ändern und den Dunkelmodus aktivieren, indem Sie im Story-Infofeld auf die Registerkarte "A" klicken.

Sie können während unseres laufenden öffentlichen Betatests vorübergehend zu einem Classic Literotica® Erlebnis zurückkehren. Bitte erwägen Sie, Feedback zu Problemen zu hinterlassen oder Verbesserungsvorschläge zu machen.

Klicke hier

Ich hatte ihn beobachtet, gesehen, wie er neue Frisuren, andere Styles seiner Kleidung, ausgetestet hatte. Sogar seine Sprache hatte sich verändert zu einem mir blöd vorkommenden Denglish. Ich wunderte mich, was mit Niklas in den letzten vier Jahren passiert war. Er war nicht mehr der Niklas, den ich seit dem siebten Schuljahr kannte. Was war passiert? Er war nicht mehr mein Freund, und ich war dennoch besorgt.

Normalerweise sollte mir das gleichgültig sein. Aber die Realität war anders. Von dem Moment an, als mir im siebten Schuljahr klar wurde, dass ich mich in ihn verknallt hatte, war ich verstört, und in den vier folgenden Jahren seit dem Nachmittag in seinem Zimmer ebenso, wenn nicht mehr.

All diese Jahre dachte ich darüber nach, warum ich mich nicht getraut hatte, die drei Worte ‚Ich liebe dich' zu dem Jungen zu sagen, der mein bester Freund seit dem ersten Schuljahr war. Ich war ein Feigling und ich begann, mich mehr und mehr zu hassen wegen meiner Lügen, Ausflüchte und blöden Entschuldigungen.

Ich bemühte mich, die Beziehung tot zu denken, die mir in meinen siebzehn Lebensjahren das Meiste bedeutet hatte.

Es wäre einfach gewesen, Niklas die Schuld zu geben. Aber in meinem Innersten wusste ich, ich war derjenige, der den Schwanz eingezogen hatte, egal, wie oft ich ihm auch die Verantwortung dafür zugesprochen hatte. Ich war der, der plötzlich keine Zeit mehr für ihn hatte, mit ihm nicht mehr gesprochen hatte und seine Anrufe unbeantwortet ließ. Ich begann, alle Orte zu vermeiden, wo er eventuell sein könnte. Es war nicht so, dass ich ihn nicht um mich haben wollte, aber ich hatte Angst. Angst vor meinen Gefühlen. Angst davor, was sie mit mir anstellten. Und diese Gefühlslage brachte mich dazu, dass Einzige zu tun, was mich von meinen Gedanken abbringen konnte:

Totale Trennung von Niklas. Ich löschte ihn aus meinem Leben, löschte in Folge die Beziehung zu der einzigen Person, die mich angenommen hatte, wie ich war, ohne Forderungen oder Vorbehalte. Ich hatte meine Fehler und war manchmal etwas kompliziert, aber er behandelte mich immer, als wäre ich etwas Besonderes.

Ich hatte kein Recht mehr mich zu fragen, was mit Niklas los war. Ich war derjenige, der ihn beiseite gestoßen hatte, die Wand zwischen uns aufgerichtet hatte. Trotzdem war es mir nicht egal. Ich hatte zugeschaut, wie der Niklas, den ich gekannt und geliebt hatte, verschwand und langsam zu einer fremden Person wurde.

Er hatte versucht, einen Weg zu finden, um mit mir zu sprechen. Da war er noch der smarte und liebenswerte Niklas mit seinen strohblonden Haaren und offenen, grünen Augen, aber seit dieser Zeit hatte er sich dramatisch verändert. Er lehnte sich an die gewaltige, schattenspendende Buche im Park und starrte in die Luft.

Es war, als hätte er in jedem Jahr eine neue Persönlichkeit getestet, und erschien am Ende der Ferien in der Schule als ein Fremder. Nur sein Name, der bei der Anwesenheitskontrolle aufgerufen wurde, erinnerte an ihn.

Ich möchte nicht sagen, dass ich mich auch neu erschaffen hatte, aber im gewissen Sinn war das genau das, was ich getan hatte, als ich an diesem Nachmittag aus seinem Zimmer stürzte. Ich handelte, als ob es nie passiert wäre, schlimmer als das, ich löschte Niklas' Existenz. Ich musste es tun. Wenn es ihn nicht mehr gab, dann konnte ich ihn nicht mehr lieben, ihn nicht mehr küssen. Und wenn das nicht mehr möglich war, dann würde ich vielleicht, nur vielleicht, nicht mehr schwul sein.

Im ersten Sommer, vor der achten Klasse, war es noch nicht so drastisch, aber als die Jahre vergingen, wurde er immer verzweifelter. Die langen Strähnen schwarz gefärbter Haare, die sein Gesicht fast komplett versteckten, schienen ihn von jedermann zu trennen und zeugten von seiner Einstellung. Er trat in die Theatergruppe ein und ja, er war nicht schlecht darin, sich zu verstellen.

Im neunten Schuljahr war er in der Schwimmgruppe. Seine Haare waren etwas länger gewachsen und das gechlorte Wasser hatte sein strohblondes Haar in ein hellblondes verwandelt. Ich war nicht in der Lage, zuzuschauen. Niklas in Badehose, so oft ich es mir in Gedanken vorstellte, war etwas, was ich in meiner Gefühlslage nicht zu nah sehen durfte.

Gelb gefärbte Locken im zehnten Schuljahr, die man schon von weitem erkannte, so dass ich die Möglichkeit hatte, ihm auszuweichen. Eine Begegnung mit ihm wollte ich vermeiden. Immer noch war ich nicht im Klaren mit mir.

Ich hätte ihn heute fast nicht erkannt, in seinem dunkelgrauen Sweatshirt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, Kopfhörer angelegt trank er aus einer Wasserflasche. Neben ihm ein Skateboard, das umgedreht im Gras lag. Ich spielte mit einen Gruppe Jungs Fußball, und der Ball war aus dem Spielfeld heraus gerade auf ihn zugerollt.

Ich wusste nicht viel über Skaten, aber dieses Board sprang mir in die Augen. Es war nicht sehr farbig, nur schwarze und weiße Streifen, aber da war ein Bild auf ihm gemalt, das ein rotes Herz zeigte, mit einem Riss, der quer über die rote Fläche lief. Unterhalb des gebrochenen Herzens stand ein Wort: Rätsel.

Mein Unterbewusstsein hatte mich dazu gebracht, sekundenlang die einfache Zeichnung anzuschauen. Ich kam mir wie ein Eindringling in Niklas' Revier vor, als ich den Ball zurückholen wollte. Das brachte mich dazu, ihn anzusprechen, das erste Mal nach vier Jahren.

„Hee, sorry dafür."

Dabei deutete ich auf den Ball, der ganz in der Nähe seiner Füße lag.

„Schönes Board", fügte ich hinzu, als ich mich bückte, um den Ball aufzunehmen.

Niklas schwieg und ich fragte mich, ob er mich mit den Ohrhörern verstanden hatte, aber als seine Augen durch einen schwarzen Haarvorhang meine trafen, kam ein Laut aus meinem Mund. Ich hoffte, er hatte diesen auch nicht gehört und sah ihm direkt in die Augen, zum ersten Mal nach langer Zeit.

Sie hatten dasselbe Grün, vor dem ich an jenem Nachmittag weggelaufen war und dann mit Absicht bis heute gemieden hatte. Er hatte keine Antwort für mich, aber sein Blick sagte alles.

„Rolf, was machst du? Wir warten auf dich."

Ich sah hinüber zu den Fußball-Jungs, dann zurück auf Niklas. Seine Augen luden mich nicht ein, zu bleiben, aber ich konnte plötzlich nicht wieder weglaufen, diesmal nicht. Ich schoss nur den Ball zurück aufs Spielfeld, setzte mich vor Niklas auf den Boden und wartete.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir uns gegenüber gesessen haben, nur Schweigen zwischen uns, aber die Sonne war untergegangen und es dämmerte. Ab und zu traf mich ein starrer Blick aus seinen grünen Augen. Ich sah auf die Uhr. Fast drei Stunden hatten wir ausgeharrt, ohne Worte, bevor ich aufstand und nach Hause ging.

Zu Hause schloss ich mich in meinem Zimmer ein. Wie konnte jemand, für den ich so viel empfunden hatte, drei Stunden mir gegenübersitzen und mir nichts zu sagen haben. Warum hatte ich nichts zu ihm gesagt? Es war wohl das Gefühl von Schuld, das ich jedes Mal hatte, wenn ich in seine Augen blickte, und die von mir eine Erklärung für die letzten Jahre verlangten. Die Wahrheit war, ich hatte keine. Mir war nicht klar, warum ich mich heute vor ihn gesetzt hatte, um vielleicht mit ihm zu sprechen. War es das Schuldgefühl, das mich daran gehindert hatte?

Die Erinnerung an den Nachmittag stieg in mir hoch, als ich in seinem Zimmer neben ihm auf dem Teppichboden lag. Wir sahen uns einen Film an. Unsere Seiten berührten sich unverfänglich, unsere Bäuche pressten sich auf den teppichbelegten Boden. Wir hatten unser Kinn auf unsere Hände gelegt und unsere Ellbogen berührten sich. Eine lustige Szene und wir beide lachten. Ich sah in sein lächelndes Gesicht.

Er war mein bester Freund, aber mehr als das. Ich hatte bemerkt, dass seine grünen Augen meine Hemmungen jedes Mal mehr wegschmolzen, wenn ich in sie blickte.

Wir lachten und es endete damit, dass ich ihn schubste, ihn herumrollte. Er grinste mich frech an und ich fand, dass er ein klein wenig Vergeltung nötig hatte. Ich griff ihn an. Wir rauften miteinander, rollten aufeinander, bis meine Größe und Kraft gewann, und ich seinen zierlicheren Körper unter mir niederhielt. Wir keuchten vor Anstrengung. Niklas wurde klar, dass er gefangen war, seine Hände von mir gegen den Boden gepinnt und ich auf seinem Unterleib thronte. Er gab auf.

Ich feierte einen Augenblick lang meinen Sieg. Meine Augen fanden seine, verloren sich in ihnen, öffneten einen Blick in seine Seele. Ich fühlte mich geborgen, verstanden und akzeptiert, jedes Mal, wenn ich in sie schaute und dieses Gefühl wurde immer intensiver. Er grinste mich an, fragte sich wohl, was ich mit meinem Sieg anfangen wollte.

„Mach' doch mit mir, was du willst", forderte er mich heraus, vielleicht in einem Versuch, mich früher oder später von seinem Bauch zu bekommen.

Ich war voll entschlossen, ihn zu kitzeln oder sogar einen spucknassen Finger in sein Ohr zu stecken, irgendwas, um eine Form von Körperkontakt zu haben, aber am Ende funkte mein Gehirn oder mein Herz dazwischen, und ich küsste ihn. Nur ganz zart auf seine roten Lippen, nur für einen kurzen Moment, und die Welt schien aufzuhören, sich zu drehen. Er stieß mich nicht beiseite, er schrie mich nicht ärgerlich an. Er sah mich nur mit weit geöffneten Augen an und ich spiegelte mich in ihnen, wie in einem grünen See.

Ich war verschreckt, durcheinander und verstört. Ich konnte ihn noch nicht einmal etwas Blödes anbieten, ihn bedrohen, versprechen seine Hausaufgaben den Rest meines Lebens zu machen im Tausch für sein Schweigen. Nein, stattdessen sprang ich auf, rannte aus seinem Zimmer und versteckte mich für Jahre, bis heute, wo ich nicht mehr wegrennen konnte. Jetzt war ich mir über mich klar geworden, aber er hasste mich. Meine pure Existenz hatte ihn zu jemanden verwandelt, der sich vor allem und jedem versteckte.

Seine Augen waren kalt geworden, und die Seele, die ich darin gesehen und geliebt hatte war beschützt von einer dicken Haut, die er sich über die Jahre hatte wachsen lassen. Auf dem Heimweg hatte ich mich gefragt, ob er sich für dieses Jahr einen noch extremeren Look hatte einfallen lassen, aus einem bestimmten Grund. Verdammt! Ich mochte ihn trotzdem, die Art wie sein rabenschwarzes Haar mit seiner hellen Haut kontrastierte und wie seine Augen dazu passten. Die schwarzen Eyeliner, die man sehen konnte, wenn er mich anschaute, dazu der schwarze Nagellack und seine Ohrringe fügten sich ins Gesamtbild.

Ich erinnerte mich an das Glitzern des Metallrings, den er durch seine Unterlippe gepierct hatte. Manchmal nimmt man eine Menge Dinge in sich auf, auch ohne direkt hinzuschauen, wenn man sich drei Stunden lang anstarrt. Was ich an ihm äußerlich gesehen hatte, war konträr zu dem Niklas, den ich kannte. Aber ich erkannte auch den Schmerz, den Ärger. Er hatte mir immer noch nicht vergeben, ihn an diesem Nachmittag verlassen zu haben. Obwohl er sich hinter seiner Tarnung versteckte, hatte ich das erkannt.

Ich hatte einen Annäherungsversuch unternommen, und er wusste nicht, warum. Welchen Grund sollte ich haben, mich plötzlich um ihn zu kümmern? Und wenn er mir vergeben würde und mich wieder in sein Leben ließ, welche Garantie hatte er, dass ich nicht wieder weglaufen würde, das kleine Bisschen Seele zerstörte, welches er mit seiner Maskerade zu schützen versuchte?

Erst am nächsten Wochenende war ich wieder mit den Jungs im Park und sah ihn wieder. Ich hatte in der Schule nach ihm geschaut, ich sah ihn am Montag nicht und auch nicht am Dienstag. Mittwochs hatte ich das Gefühl, er versteckte sich vor mir, obwohl, wenn ich genau nachdachte, hatte ich ihn auch die letzten Monate nicht gesehen. Besuchte er die Schule noch?

Ich hätte an seine Haustür klopfen können. Das war die letzten vier Jahre nicht passiert, obwohl er im Nachbarhaus wohnte. Das wäre kein guter Plan gewesen, ahnte ich. Mein Vater hatte sogar ein kleines Tor zwischen unseren Gärten gebaut, damit wir uns besser besuchen konnten. Eingerostet war es vier Jahre lang nicht benutzt worden.

Ich sah ihn elegant über den Weg gleiten, an diesem Samstag Anfang April. Sein offenes Hemd flatterte hinter ihm, die warme Sonne brachte seine Haut zum Leuchten. Verdammt, er war atemberaubend. Sein Körper war immer noch schlank, aber er war erwachsener geworden, hatte Muskeln bekommen. Ich bildete mir ein, sogar einen Waschbettbauch zu sehen. Normalerweise trug er eine Kleidung, dass man das nicht sehen konnte, aber die warme Sonne heute hatte ihn dazu gebracht, mir ungewollt diesen aufmerksamkeitserregenden Anblick zu bieten. Seine Haare wehten im Wind. Aus meinem Inneren stieg die Frage auf, wie es wohl wäre, seine nackte Brust an meiner zu fühlen.

Ich wollte ihm zurufen, hatte eine Phantasie in mir, dass er mich hören würde, herbeifahren, mich anlachen. Aller Schmerz der letzten Jahre würde hinweggewischt mit der Kraft einen einzigen Kuss', mit dem alles begonnen hatte. Aber mein Mund blieb verschlossen, er kam nicht zu mir, wir küssten uns nicht. Nein, stattdessen starrte ich ihn nur an, und er ignorierte meine Existenz wie gewöhnlich.

Wir spielten unser Fußballspiel, rannten den Platz öfter auf und ab, als ich zählen konnte, bis die rote Sonne tief am Horizont hing. Ich ging nach Hause, genoss die leichte Frühlingsbrise an meiner feuchten Haut. Ich hatte einen trockenen Mund, und ein Trinkbrunnen lud mich geradezu ein.

Ich sah es aus den Augenwinkeln, strich mir die letzten Tropfen Wasser von den Lippen. Ich erkannte seine Umrisse an derselben Buche, unter der wir am letzten Wochenende gesessen hatten.

Verflucht! Warum unterzog ich mich all dem? Ich fand mich selbst wieder vor ihm stehend. Er bemerkte mich nicht, denn seine Augen waren geschlossen, sein Kopf lehnte zurückgelegt am Stamm, und ich sah ihn an.

Sein Fuß bewegte sich im Rhythmus irgendeines Songs, dem er lauschte. Ich beschloss, ihn nicht zu stören. Er sah so ruhig und gelassen aus, und das traf meine Seele mehr als die Blicke, die ich von ihm am letzten Wochenende geerntet hatte.

Es schien mir wie in den Zeiten zu sein, wo er mich glauben lassen wollte, er fühlte nichts mehr für mich. Da war nur ein leerer, verlassener Platz unter der Buche übrig, an dem er seine Gefühle für mich aufbewahrte. Andererseits wollte er mich wissen lassen, dass der Ärger ihn zerfraß, dass er bis zu diesem Tag so stark gelitten hatte, dass ein Hass gegen mich in ihm aufkeimte. Ich bevorzugte das Zweite, denn dann fühlte er wenigstens etwas.

Er war mehr als erschreckt, als er die Augen öffnete und mich geduldig vor ihm sitzen sah, bevor sein Gesicht wieder starr wurde, maskiert von einem starren Blick, den er perfektioniert hatte. Einen kurzen Moment öffnete er den Mund, als ob er mir etwas sagen wollte, zum Beispiel ‚Verpiss dich und verrecke', bevor er wieder entschlossen zuschnappte. Wieder saßen wir da. Ich schaute ihn an, versuchte einen winzigen Teil des Niklas zu finden, den ich einst geliebt hatte, um ihn wieder zu packen und nie mehr gehen zu lassen, während er sich mit allen Kräften dagegen wehrte.

Genauso, wie in der letzten Woche, war die Zeit gekommen, wo ich aufstehen und nach Hause gehen musste. Ich hasste es, wegzugehen, wie ein geprügelter Hund. Er grinste fast, in einer hämischen Art, als ich mich erhob. Ich hatte es wenigstens versucht, obwohl er nicht mit mir gesprochen hatte. Trotzdem fühlte ich mich schuldig, als ich von ihm ging.

"Ich muss gehen", murmelte ich. In Wirklichkeit wollte ich sitzen bleiben, so lange, wie der Krieg unserer Willen ausgetragen wurde.

„Vielleicht seh' ich dich in der Schule."

Er antwortete nicht und es tat weh.

„Um dieselbe Zeit nächste Woche?"

Am nächsten Samstag war ich fest entschlossen, mein Spiel ein wenig weiter zu treiben. Die Jungs am Fußballfeld fragten mich, ob ich mitspielen wollte, aber ich wollte nicht, diesmal nicht. Ich ging hinüber zu der dicken Buche und setzte mich. Die Stelle am Baum überließ ich ihm und nahm den Platz ein, an dem ich die beiden letzten Samstage gesessen und ihn angesehen hatte, nur ohne ihn.

Ich hielt Wache für mehrere Stunden, dann hörte ich ihn, das unmissverständliche Geräusch eines herannahenden Skateboards. Ich zwang mich, mich nicht umzuschauen, aber als die Räder an der Stelle stoppten, wo der Asphalt den Rasen berührte, lächelte ich. Nur eine Sekunde, aber ich lächelte.

Er schob sein Bord aufs Gras und setzte sich hin, belegte seinen gewohnten Platz, angelehnt an den Baumstamm. Für einen Sekundenbruchteil trafen seine Augen meine, dann war ich wieder Luft für ihn, und er sah beiseite. Ich sah ihn an, fand die kleinen Zeichen, die ihn zu Niklas machten. Einige Dinge konnte er nicht unterdrücken, so sehr er es auch versuchte.

Es wäre überheblich von mir gewesen, nur zu denken, dass er jetzt ein Gespräch mit mir beginnen würde, wenn es auch nur ein ‚Geh zur Hölle' gewesen wäre, aber irgendwie musste ich es doch versuchen. Auf eine gewisse Art und Weise brauchte ich ihn, wenn ich auch wusste, dass ich selbst ihn in den letzten vier Jahren fast zerstört hatte, den Niklas, den ich gekannt und geliebt hatte.

Der Frühling war fast zu Ende, und es war an diesem Nachmittag wärmer als lange Zeit zuvor. Ein warmer Wind kreiste um uns, versuchte uns zu erinnern, dass es bald Sommer wurde. Ich fragte mich, als ich ihn da sitzen sah, wo er den Großteil seiner Zeit verbrachte, was er tat in seinen Tagen und Nächten, und woher er regelmäßig kam, wenn er pünktlich jeden Samstagnachmittag unter diesem Baum saß.

Ich hatte nicht das Recht, zu fragen, und wenn ich es doch tun würde, würde er nicht antworten. Ich hoffte, er würde mit mir sprechen, wenn er bereit dazu war, nicht früher oder später. Außerdem war ich neugierig, wie er reagierte, wenn ich nicht vor ihm aufstehen würde, sondern mit ihm diesen Platz verließ. Ich hatte meiner Mutter gesagt, sie solle nicht mit dem Abendessen warten, weil ich den ganzen Tag beschäftigt wäre.

So saß ich da, seit zehn Uhr morgens, ganz allein, bis er kam und sich schweigend vor mich setzte. Er schien fast ängstlich darauf zu warten, dass ich mich zum gewohnten Zeitpunkt erheben würde und ihn wieder verließ, wie ich es die beiden letzten Samstage getan hatte. Aber das würde heute anders sein. Wie lange würden wir hier sitzen? Die Dämmerung brach herein, der Himmel wurde dunkler, bis der Nachthimmel die Schwärze seiner Haare hatte.

Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, der Mond ging auf, warf feine Schatten auf sein Gesicht. Wir saßen da wie angewurzelt, und ich musste mich zwingen, nicht auf meine Uhr zu schauen. Fast zehn Stunden musste ich nun gesessen haben, als er schließlich seinerseits aufstand, sich offensichtlich dagegen sträubte, diesmal mich zu verlassen. Meine Beine waren eingeschlafen, ich knickte fast ein, als ich mich ebenfalls erhob. Er nahm sein Skateboard unter den Arm und ich folgte ihm schweigend.

Als wir den Weg erreichten, erwartete ich, dass er nun das Board fallenlassen würde, um davonzufahren, aber das tat er nicht. Er ging weiter mit dem Skateboard unter dem Arm, nur einen Schritt vor mir. Schweigend gingen wir so in Richtung unserer Häuser und ich war mehr als überrascht, als er vor seinem Haus nicht Halt machte, sondern die restlichen Meter bis zu meiner Haustür weiterging.

Wirre Gedanken schossen mir durch den Kopf, als wir mein Zuhause erreicht hatten. Er hatte dafür gesorgt, dass ich sicher nach Hause kam, und als er vor meiner Haustür stoppte, hörte ich einen leisen Seufzer. War es sein Frust, dass ich als sein wochenlanger Stalker nicht aufgegeben hatte oder seine Ärger darüber, dass er nicht aufhören konnte, sich um mich zu kümmern, so sehr er es auch versuchte?

Ich zitterte ein wenig in der kühlen Nachtluft. Ich wollte nicht, dass er jetzt ging, aber es war unausweichlich. Er drehte sich um, ging mit schnellen Schritten zurück zu seinem Haus, als wollte er, dass diese Nacht enden würde.

„Warte Nick."

Ich hielt ihn am Arm, um ihn aufzuhalten. Das brachte mir seinen eisigen Blick ein, als er meine Hand von seinem Arm schüttelte, als ob die Berührung für ihn schmerzhaft wäre.